SEV: Für Europa, aber nicht um jeden Preis

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 27. Februar 2024 veröffentlicht.

Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV unterstützt Verhandlungen der Schweiz mit der EU grundsätzlich. Aber der SEV lehnt das aktuelle Verhandlungsmandat mit der EU in der vorliegenden Fassung ab, weil es eine Marktöffnung im internationalen Schienenpersonenverkehr (IPV) vorsieht. Für den SEV ist das Schweizer Bahnsystem nicht verhandelbar. Der SEV fordert deshalb in seiner Stellungnahme den Bundesrat auf, auf Verhandlungen über eine Marktöffnung im IPV zu verzichten.

Das integrierte ÖV-System der Schweiz bildet ein zentrales Element des Service public. Es ist sowohl gesellschaftlich als auch volkswirtschaftlich zu wichtig, um es im Rahmen von Verhandlungen mit der EU aufs Spiel zu setzen. Es gibt keinen Grund, dieses funktionierende System, um das die Schweiz von ihren Nachbarländern beneidet wird, infrage zu stellen. Für den SEV wäre es unverantwortlich, wenn die Schweiz die Marktöffnung im IPV als Verhandlungsgegenstand einsetzt, um in anderen Bereichen Zugeständnisse seitens der EU zu erwirken. Das Verhandlungsrisiko ist zu gross. Stattdessen sollte die Schweiz versuchen, der EU die Vorteile des kooperativen Schweizer ÖV-Systems argumentativ näherzubringen. Ein zuverlässiges, leistungsfähiges und funktionierendes ÖV-System in der Schweiz und ganz Europa ist das Ziel.

Eine «kontrollierte Öffnung» ist mit unwägbaren Risiken verbunden

Die «kontrollierte Öffnung», wie sie das Bundesamt für Verkehr BAV vorschlägt, ist hochriskant und alles andere als kontrollierbar. Durch die Marktöffnung wird dem auf Konkurrenz und Wettbewerb basierenden System der EU der Zugang zum bislang auf Kooperation basierenden integrierten ÖV-System der Schweiz gewährt. Betroffen sind auch nationale Linien, weil innerstaatliche Beförderung nicht grundsätzlich verboten ist wie im Strassenverkehr. Das hätte zur Folge, dass das Schweizer ÖV-System auf lange Sicht unterwandert wird. Die Konkurrenz um die Fahrgäste auf den rentablen nationalen und internationalen Personenfernverkehrslinien schränkt die Ertragsmöglichkeiten der Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) im Fernverkehr ein. Das wird sich wiederum negativ auf deren Eigenwirtschaftlichkeit auswirken. Solch eine Rosinenpickerei ist nicht zielführend. Trotz Tarifintegration droht Preisdumping, weil Sparbillette zulässig sind. Das hat Auswirkungen auf das Personal. Es droht Lohndumping. Die bestehenden Schutzmechanismen in Bezug auf die Personenfreizügigkeit, die sogenannten flankierenden Massnahmen, sind in der ÖV-Branche nicht anwendbar. Es fehlen die gesetzlichen Bestimmungen, welche die ausländischen EVU im IPV verpflichten würden, Arbeitsbedingungen einzuhalten, die sich an bestehenden GAV mit Schweizer EVU orientieren.

Grosse Rechtsunsicherheit

Die vorgesehene Marktöffnung im IPV führt zwangsläufig zu Konflikten bei der Trassenallokation, da bereits heute zu wenige freie Kapazitäten bestehen. Die zusätzlichen Begehrlichkeiten nach attraktiven Trassen erhöhen das Risiko für gerichtliche Auseinandersetzungen. Auch die vorgesehene Übernahme von EU-Beihilferecht schafft Rechtsunsicherheit. Was bedeutet das für die öffentliche Finanzierung des ÖV? Welche Implikationen hätte dies für die einzelnen Verkehrsunternehmungen? Mit der Übernahme von EU-Beihilferecht wären Tresoreriedarlehen des Bundes, die Befreiung von der Bundessteuer und die konzerninterne Verrechnung bzw. die Quersubventionierung für Unternehmensbereiche der Unternehmen im IPV voraussichtlich nicht mehr zulässig. Die EU oder ein ausländisches Bahnunternehmen könnte irgendwann geltend machen, die in der Schweiz gängige Direktvergabe von Angeboten trage dem Kooperationspartner in der EU einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil ein, sei mithin diskriminierend und marktwidrig.

Für einen funktionierenden europäischen Bahnverkehr

Dass das Verhältnis mit der EU für die Schweiz, sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Überlegungen, von zentraler Bedeutung ist, anerkennt der SEV. Der SEV unterstützt den bilateralen Weg. Auch im Eisenbahnverkehr ist eine intensive Zusammenarbeit mit der EU wichtig und zum Nutzen der Schweiz, nicht nur für grenzüberschreitende Verbindungen. Die gegenseitige Anerkennung von Zulassungen, ein europaweites Zugsicherungs- (ECTS) und Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS) oder der vollständige Beitritt zur Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) sind bedeutend für das Eisenbahnsystem, die Eisenbahnverkehrsunternehmen und die Eisenbahnindustrie in der Schweiz. Der SEV begrüsst deshalb eine enge Kooperation mit der EU und lehnt Verhandlungen im Landverkehr nicht grundsätzlich ab. Aus Sicht des SEV ist es richtig, den internationalen Personenschienenverkehr (IPV) auszubauen und das Angebot an internationalen Verkehrsverbindungen insgesamt zu verbessern, aber nicht durch eine unkontrollierbare Öffnung.

Ergänzung vom 8. März 2024:
Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV ist mit Blick auf den Schutz des Schweizer Eisenbahnsystems zwar zufrieden mit der generellen Richtung des Verhandlungsmandats des Bundesrates. Dennoch bleiben Fragen und Zweifel.

Der SEV stellt zwar mit Genugtuung fest, dass der Bundesrat die Bedenken des SEV zu den Verhandlungen des Landverkehrsabkommens ernst genommen hat. Aber er fordert weiterhin, dass die Schweiz ohne Wenn und Aber am Kooperationsmodell und der Zuständigkeit der Trassenvergabe auf Schweizer Boden festhält  – und das nicht nur als Möglichkeit vorsieht. Weiterhin kritisch bleibt der SEV gegenüber der Tatsache, dass überhaupt über eine «kontrollierte Öffnung» beim Schienenverkehr verhandelt wird. Ebenso kritisch sieht der SEV die angestrebte Übernahme des EU-Beihilferechts und Zugeständnisse beim Lohnschutz. Der SEV fordert, während den Verhandlungen fortlaufend konsultiert zu werden, und zwar frühzeitig und enger als in der Vorbereitungsphase.

Links

  • Die ganze Stellungnahme finden Sie hier oder die Kurzversion hier

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