Die Zugsausfälle sind die direkte Folge von Fehlplanungen der vergangenen Jahre. Es braucht ein radikales Umdenken bei der SBB, fordert der Verband Schweizer Lokomotivführer und Anwärter (VSLF) in seiner Stellungnahme.
Stellungnahme des Verbandes Schweizer Lokomotivführer und Anwärter (VSLF)
Systematische Zugsausfälle
Der heutige Lokpersonal-Mangel ist keine Überraschung, sondern kündigte sich über Jahre an.
Anstatt offensichtliche Fehlplanungen zu korrigieren, wurde der Fokus in den letzten Jahren vor allem auf statistische Beschönigungen und Symptombekämpfung gesetzt. Nachhaltige Korrekturen, welche einen langfristig funktionierenden Bahnbetrieb garantieren, fehlen bis anhin.
Dieses kurzfristige Denken führte unter anderem zu einer unvollendeten Ausbildung von jungen Lokpersonal-Anwärtern, deren Spezialisierung zu einer beschränkten Einsatzfähigkeit und damit zu einer Schwächung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der SBB führte.
Die naive Technikgläubigkeit der vergangenen Jahre hinterlässt uns zudem schlecht funktionierende Werkzeuge, die einen nicht unbeträchtlichen Teil zu der heutigen Situation beitragen. So wurde die komplexe Einsatzplanung von einem vermeintlich automatischen Programm übernommen, dessen Kapazitätsverluste nun mit einem enormen Personalaufwand kompensiert werden müssen – zum Teil von Lokführern, die nun auf der Schiene fehlen.
Auch das prestigeträchtige und mit Hunderten von Millionen Franken unterstützte Projekt der Automatisierung von Zügen darf als gescheitert betrachtet werden; mit dem Negativ-Effekt, dass viele Interessenten mangels Perspektive von einer Ausbildung zum Lokführer-Beruf absehen.
Dies alles und die komplette Umstrukturierung bei SBB Personenverkehr 2019 mit enormen Schwachstellen für eine effiziente Produktion führte zu dieser Zuspitzung der angespannten Lage, sodass nun 2% aller fahrplanmässigen Züge gestrichen werden mussten.
Mittlerweile ist die SBB aufgrund der gestrichenen Züge und Linien in allen Medien negativ präsent und der Unmut in der Bevölkerung wie auch bei den Behörden und Bestellern ist unüberhörbar. Ohne COVID-19 wären der Unterbestand und die damit verbundenen Zugsausfälle bereits seit anfangs Jahr akut.
Wir wären nicht in der Lage gewesen, die sommerlichen Fussball-, Festival- und Feiertag-Extrazüge sowie die Nacht-S-Bahnen zu führen.
Dass die SBB so drastische Massnahmen ergriff, war die letztlich richtige Entscheidung zum Schutz des Personals und dadurch auch für die Sicherheit. «Wir können nicht zaubern», wie unser CEO Vincent Ducrot zurecht bemerkte, und um Geduld bat.
Die Ausdünnung des Fahrplans und die COVID-19-Problematik werden die SBB noch nachhaltig finanziell belasten.
Belastung für die SBB und das Personal
Wir sind uns dieser prekären Lage absolut bewusst. Trotz durchschnittlich übervollen Zeitkonti haben wir während der Lockdown-Phase den Betrieb mit anderen systemrelevanten Berufskategorien aufrechterhalten, ungeachtet der unbekannten Gefahrenlage betreffend Ansteckung. Und selbstverständlich haben wir unsere Ferien bezogen, auch wenn wir sie nicht nutzen konnten; viele boten sogar ihre Hilfe während ihren Ferien an.
Umso mehr müssen wir die Probleme, vor allem was die systemrelevanten Berufskategorien betrifft, endlich richtig angehen. Es reicht nicht, sich beim Personal für die belastende Situation zu entschuldigen und gleichzeitig einen ausgeglichenen Personalbestand für kommendes Jahr in Aussicht zu stellen. Diese optimistische Prognose ist exakt der Teil des Problems, der uns in die heutige Situation geführt hat. Wir müssen uns auf eine längere Durststrecke vorbereiten, wenn wir die Probleme denn auch wirklich lösen möchten, und nicht nur PR-trächtig verwalten.
Wir als Lokführerverband sind gerne bereit mitzuhelfen diese prekäre finanzielle und personelle Lage durchzustehen und Lösungen zu finden für eine nachhaltige Stabilisierung unserer Unternehmung.
So bringen wir uns zum Beispiel aktiv im Projekt für die Neuentwicklung der Ausbildung Lokpersonal bei SBB Personenverkehr ein. Darin machen wir uns für definierte Vorgaben der Ausbildungsziele stark, welche sich neu an den betrieblichen Anforderungen orientieren sollen.
Zudem erachten wir vor allem eine sorgfältige Rekrutierung und den betrieblich flexiblen Einsatz nach der Ausbildung als wichtige Schritte zur Problemlösung.
Nur mit einem abwechslungsreichen und flexiblen Einsatz des Lokpersonals bei der SBB inklusive der Tochtergesellschaften und Kooperationspartner können wir unser ÖV-System produktiv und damit für die öffentliche Hand günstig betreiben. Zudem kann damit die Zufriedenheit des Personals erhöht und die Fluktuation gesenkt werden.
Dafür müssen aber die heutigen Silo-Strukturen mit den beschränkten Verantwortlichkeiten und den jährlichen Zielvorgaben des Budgets komplett neu überdacht werden. Für kurzsichtige Sparübungen werden wir keine Hand bieten, zumal diese sich beim Lokpersonal kontraproduktiv auswirken werden.
Ursachenfindung und Verbesserungen
Die Attraktivität des Berufs Lokführer ist ein entscheidender Faktor für die Rekrutierung geeigneter Personen und muss, insbesondere aus unternehmerischer Sicht, wieder einen deutlich höheren Stellenwert bekommen. Die künftigen Zugsausfälle stehen in einem linearen Zusammenhang mit diesem Faktor.
Seit Jahren fanden beim Lokpersonal keine nennenswerten Anpassungen am Lohn statt. Ein langjähriger Lokführer SBB verdient heute praktisch gleich viel wie vor 15 Jahren, was kaufkraftbereinigt nicht einmal einer Stagnation gleichkommt.
Dies hält keinem internen oder externen Vergleich Stand, trotz ausgewiesenen Mehrbelastungen.
Der Lohnaufstieg von jungen Lokführern SBB bis zum Maximallohn ist deutlich länger als bei anderen EVU’s, was immer wieder zu schmerzlichen Abgängen führt.
Unausgereifte IT-Programme und Umstrukturierungen ohne Rücksicht auf funktionierende Schnittstellen führten zu Problemen, die nur kompensiert werden können, indem man Verbindlichkeiten betreffend Dienstschichten und Arbeitszeiten laufend abbaut. Dies führt zu gravierenden Folgen für das soziale Leben, dass durch die unregelmässigen Arbeitszeiten ohnehin schon eingeschränkt ist.
Und während andere ihre Verantwortlichkeiten delegieren oder bis zur Unkenntlichkeit aufteilen, haftet der Lokführer für jedes Problem in Eigenverantwortlichkeit.
Dies führt zu einer Unzufriedenheit in unserem Personalkörper, und damit zu Abgängen von jungen Lokführern, die eine neue berufliche Perspektive suchen, und älteren Lokführern, die sich so früh als möglich in die Pension flüchten.
Und es führt dazu, dass wir kaum genügend geeignete Anwärter für unseren Beruf finden, sodass die Züge in Zukunft verlässlich und stabil fahren.
Dringend benötigter Wandel
Wie gesagt: der heutige Lokpersonal-Mangel ist keine Überraschung. Die Fehlplanungen waren offensichtlich und wurden von uns auch permanent bemängelt.
Seit Jahren zeigen wir Lösungen auf, scheitern aber am bürokratischen Silo-Denken, das in den letzten Jahren nahezu perfektioniert wurde.
Solange das Lokpersonal der SBB vor allem als Stör- und Kostenfaktor wahrgenommen wird, fehlen die Grundlagen für echte Verbesserungen.
Rückblickend bedauern wir, dass wir nicht noch energischer auf einer Aufstockung des Lokpersonals beharrt haben. Wir haben daraus gelernt, zukünftig kompromissloser und gezielter gegen Fehlentwicklungen vorzugehen. Wir fühlen uns gegenüber unseren Kunden und unseren Geldgebern in der Pflicht.
Vielleicht findet jetzt endlich ein Wandel statt, und diese Krise hilft der SBB, sich wieder vermehrt auf das Notwendige zu konzentrieren. Falls dem so ist, stellen wir unser Bahn-Knowhow und unsere Loyalität weiterhin gerne zur Verfügung.
Im VSLF sind rund 2’100 Lokomotivführer in der Schweiz organisiert.
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